Kerze in Händen

Liebe Gemeinde,

beim Eingang in den Gottesdienst müssen wir neuerdings nach Impfnachweise bzw. nach Tests fragen. Viele ziehen einfach ihr Handy, da ist der Nachweis eingescannt. Es scheint, fast alle jeden Alters haben ein Handy. Hätte ich nicht gedacht. Praktisch. Ich habe auch eins. Schaue ich drauf, kann ich gleich die ganze Welt auf dem kleinen Bildschirm haben, wenn ich will. Ich kann hören und lesen, was gesagt, gedacht, vermutet, gelogen, gewusst wird und geschehen ist.

Alle Stimmen der Welt sind in dem kleinen Ding.

Wäre es laut, wäre es ein gigantisches Stimmengewirr, aus dem immer wieder einzelne Stimmen laut herausriefen. Stimmen, die versuchen, die anderen zu übertönen. Und jeder weiß: Nicht die Lautesten sind die Vertrauenswürdigsten. Längst geht es nicht nur um Werbung oder Nachrichten, sondern um Meinungen und um die Köpfe und Herzen und Seelen der Menschen; es geht um Macht. Und manche Sorge gibt es, was da alles so rausgerufen wird. Was Menschen auch verquer macht. Es gibt Sorgen um Gruppen, um Enkel, um Eltern, Freunde.

Die Mitte der Welt, das war in den Zeiten des zweiten Jesaja die Stadt Babylon, das babylonische Reich war ein Weltreich. Auf den Straßen und Gassen, in den Basaren der Stadt war lautes Stimmengewirr. Die Waren der Welt wurden angepriesen, und Menschen und Meinungen waren zu hören. Das Volk Israel in der Stadt und im Land war eine kleine Gemeinde von Exilierten und Verschleppten. Es war keine souveränes Volk mehr; es war ein geknicktes, gebeugtes Volk, ein glimmernder Docht eines einstmals hellen Lichtes.

Doch unter ihnen wird eine Stimme hörbar. Anders als alle anderen Stimmen und mit Worten anders als alle anderen: Siehe, das ist mein Knecht – ich halte ihn – und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen.

Israel hört die Stimme Gottes, hört die Verheißung. Hört sie aber nicht unter den lauten Stimmen der Straßen und Gassen, die alles Mögliche versprechen. Sie hören, vielleicht ganz leise, vielleicht im Studieren der Torah: Die Gebeugten werden aufgerichtet. Mehr noch, gerade Israel wird Gerechtigkeit und den Bund Gottes hinaustragen in die Welt. Der Geist Gottes ist auf ihnen. Und so geschieht es.

Es sind nicht die Lautesten, nicht die Mächtigsten. Es sind die, die genau hinhören, welche Stimmen erklingen, die hören, was Gottes Zukunft für die Menschen ist. Viel später verstehen die frühen Christen diese Worte auf neue Weise. Einer aus dem Volk Israel, Jesus Christus, beginnt, die Stimme Gottes allen Völker hörbar zu machen. Heilung und gerechte Lebensmöglichkeiten für alle, so handelt er, davon spricht er, auch zu den Heiden. Über Menschen die ihn hören, ihm vertrauen, gehen seine Worte weiter in die Welt. Bis zu den fernen Inseln, die darauf hoffen, schreibt Jesaja.

Worte der Heiligen Schrift sind andere Worte, selbst wenn sie durchs Internet zu uns kommen. Sie sind nicht laut, nicht grell. Ihre Bilder sind zart und stark. Es ist der glimmende Docht, der wieder zum Licht wird. Das ist ein Bild von Wärme, von Erkenntnis, Verstandeshelligkeit. Das geknickte Rohr, das gebeugte Volk, wird nicht zerbrechen. Die Kraft der Schwachen ist stark. Das können wir verstehen, es ist Verheißung und Ermutigung auch heute.Und sie tragen Gerechtigkeit als ein geschütztes und behütetes Leben für alle hinaus. Nicht laut auf den Straßen und Gassen, sondern durch Menschen unter die Menschen.

Ich habe in der vergangenen Woche ein Interview mit Albrecht Koch gelesen. Er ist Domkantor in Freiberg, im Erzgebirge. Der Dom mit seiner wunderbaren Silbermann-Orgel und einer Kantorei ist sein Arbeitsplatz. Wie auch alle unsere Musiker erleben auch sie, dass sie jetzt nicht musizieren können. Die Orgel klingt im Gottesdienst und bei Andachten mit begrenzten Besucherzahlen – doch keine Konzerte.

In Freiberg gibt es Montagsspaziergänge von Querdenkern in bunter Mischung. Der Domkantor und viele weitere haben sich nicht angeschlossen. Sie haben auch nicht dagegen demonstriert. Sie haben ein Bürgerbündnis ‚Freiberg für alle‘ gegründet, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen für ein friedliches Miteinander in der Stadt. Als die Montagsspaziergänge immer mehr für andere politische und abstruse Zwecke missbraucht wurden, schrieb das Bürgerbündnis einen offenen Brief, das nicht zu dulden.

Es kam zu Ablehnung, Leute grüßten einander nicht mehr. Aber auch zu tausenden Unterschriften von Menschen, die den Brief unterstützten. Es war die Stimme der leisen Mitte, der Mehrheit, die hörbar wurde. Auch in anderen Städten begannen Menschen, sich dazu zu äußern und dem zuzustimmen. Die nicht laut in den Gassen schreien, waren zu hören, in der Hoffnung, ihre Stadt nicht aufzugeben und gesprächsbereit zu bleiben.

Der glimmende Docht, das geknickte Rohr sind sichtbar und spürbar, schmerzlich. Aber sie werden nicht verlöschen und nicht zerbrechen, auf ihnen liegt die Verheißung.

Amen.                                                                                    Pfrin. Jutta Richter-Schröder

 
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