Kurze Geschichte der Evangelischen Kirchengemeinde Wehlheiden

Vorbemerkung:
Das Dorf Wehlheiden wird 1143 erstmalig erwähnt. Die Gemarkung umfasst ursprünglich Teile des Vorderen Westens und auch der Südstadt. Die Gemarkung ist also nicht identisch mit dem heutigen Stadtteil. Die Bevölkerungszahl beträgt im Jahr 1866: 2200, 1891 aber bereits  6316 Einwohner. Das verdeutlicht die Entwicklung vom Dorf zum Stadtteil. (Auf der Wehlheider Gemarkung steht zum Beispiel die 1908 gebaute Friedenskirche, zu der aber eine eigenständige Gemeinde gehört.)

  • Wehlheiden um 1890 – ein Dorf verändert sich

Das Jahrhundert nähert sich seinem Ende. Seit einigen Jahrzehnten wachsen die Städte schnell. Industrialisierung, Verstädterung, das geht zusammen. Immer mehr werden die Ortschaften vor den alten Stadtgrenzen zu Teilen der Stadt selbst. Es wächst zusammen, was bald zusammengehören wird. Auch mit Wehlheiden ist es so. Zunehmend entstehen Mietshäuser städtischen Charakters an den Hauptstraßen: am Kirchweg, und an der Schönfelderstraße zum Beispiel, auch an der Kohlen- und Tischbeinstraße. Zwischen dem Dorf und der Stadt wächst ein neuer Stadtteil. Er wird als Einheit entworfen und gebaut und schiebt sich vom Norden her an Wehlheiden heran. Man nennt ihn „Vorderer Westen“. Es sind Bauten der Nachgründerzeit und des Jugendstils  - ein Stadtteil der bürgerlichen Stadt um die Jahrhundertwende. Er wurde  vom Unternehmer Sigmund Aschrott geplant und konzipiert, der dafür auch die Grundstücke in großem Stil erworben hatte.  

  • Wehlheiden:  ein Dorf ohne Kirche – Die Zeit vor 1889

Wehlheiden war vor 1889  ein Dorf ohne Kirche, denn die dörfliche Kirchengemeinde war nicht selbständig. Sie gehörte zusammen mit Wahlershausen, Wilhelmshöhe, Harleshausen und Rothenditmold zum reformierten Kirchspiel Weißenstein. (Das Schloss Wilhelmshöhe hieß früher Schloß Weißenstein.) Die Muttergemeinde des Kirchspiels war zu dieser Zeit Kirchditmold, mit seiner, von Du Ry im klassizistischen Stil gebauten Kirche. So machten sich auch die Wehlheider sonntags auf den Weg nach Kirchditmold  - auf dem Kirchweg, der eben darum heute noch so heißt. Einen Pilgerweg im strengen Sinne kann man ihn kaum nennen  -  aber immerhin führte er die Wehlheider in den Stadtteil, in dem die Kirche stand und damit zum Gottesdienst.

Eine bescheidene Möglichkeit, in Wehlheiden selbst Gottesdienste zu besuchen, gab es aber doch. Dem heutigen Georg-Stock-Platz gegenüber, nahe dem „Wehlheider Kreuz“, stand am Kirchweg - bis zu seiner Zerstörung im 2. Weltkrieg - ein schlichtes 1845 entstandenes klassizistisches Gebäude, von den Wehlheidern die „Kaffeemühle“  (echt wehlheidisch: die „Kaffeemähle“) genannt. Der Bau diente zunächst auch als Schule. In ihm gab es einen Betsaal, in dem die Lehrer sonntags nachmittags Lesegottesdienste hielten. Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs die Zahl der Schüler, der Betsaal musste in Schulräume umgebaut werden, der Bau einer eigenen Kirche wurde dringlicher.

  • Die Kirchengemeinde wird selbständig

1888, im „Dreikaiserjahr“, - etwa ein Jahr vor dem Bau der Kirche -  wurde die Kirchengemeinde Wehlheiden nach dem Beschluss des Königlichen Konsistoriums und der Königlichen preußischen Regierung selbstständig  -  ein gutes Jahrzehnt, bevor das Dorf Wehlheiden Stadtteil Kassels wurde und damit seine kommunale Selbständigkeit verlor.
Der  erste Pfarrer der Kirchengemeinde war Adolf Armbröster. Er blieb es bis zu seinem Tode im Jahre 1919.  Armbröster war auch der Seelsorger der kaiserlichen Familie, der Familie Wilhelms II., die sich oft im Schloss Wilhelmshöhe zur sommerlichen Erholung aufhielt. Er hielt auch die Gottesdienste in der Schlosskapelle und nahm dann meistens an den Mahlzeiten der kaiserlichen Familie teil.

  • Wehlheidens erste Kirche

 Es war Sigmund Aschrott, der Bauunternehmer und Erbauer des Vorderen Westens, der auch mit für Wehlheidens erste eigene Kirche sorgte. Das Grundstück, auf dem sie gebaut wurde, war sein Geschenk an die bürgerliche Gemeinde, die die Baukosten trug. Die Schenkung musste von Kaiser Wilhelm II. bestätigt werden. Mit dem Bau der im neugotischen Stil  von Architekt Werner Narten errichteten Kirche an der Germaniastraße wurde 1888  begonnen. Feierlich eingeweiht wurde sie von dem ersten Pfarrer der selbständig gewordenen Kirchengemeinde am 22. Dezember 1889, am 4. Advent.  Seit 1909 trägt sie den Namen Adventskirche. Die Muttergemeinde Kirchditmold stiftete die Altarbibel für die neue Kirche. Unter den Honoratioren befand sich auch der Wehlheider Bürgermeister Georg Stock, der Kirchenältester war und sich um den Aufbau der Kirche -  aber auch um das bald zum Stadtteil werdende Dorf Wehlheiden - verdient gemacht hat. (Zum Beispiel wurden 1896  in Wehlheiden die Kanalisation und eine Quellwasserleitung geschaffen - damit verbesserte sich die hygienische und infolgedessen die gesundheitliche Situation erheblich.) -  Etwa gleichzeitig mit dem Bau der Kirche entstand in Wehlheiden ein eigenständiges Gemeindeleben.

 


















Der ursprüngliche Bau der Adventskirche, 1889

  •  Ein eigenes Gemeindeleben entsteht

In diesen Jahren wurde die Wehlheider Kirchengemeinde aufgebaut. Natürlich sind von Beginn an die Gottesdienste, Taufen, Trauungen und Beerdigungen, die seelsorgerliche Begleitung und der Konfirmandenunterricht die Kernaufgaben. Es waren und sind die klassischen Aufgaben der Pfarrer.

Der Zeit entsprechend entstanden kirchliche Vereine. Der Kirchliche evangelische Verein für Krankenpflege und Unterstützung“ entstand 1888 - in einer Zeit, die soziale Absicherung weitgehend nicht kannte. Kranken wurde geholfen, deren Familien die notwendigen Geldmittel fehlten. Der „Nähverein“ wurde zu gleicher Zeit gegründet, die spätere Frauenhilfe. Sie stand bis 1932 unter der Leitung der Frau des Pfarrers Armbröster. Ihr Ehemann hat die Frauenhilfe eine „unentbehrliche Hilfstruppe für unsere Gemeindediakonie“ genannt. Das ist sie durch viele Jahrzehnte hindurch gewesen.  

Für die Jugendarbeit gab es ab 1891 einen Jungfrauen- und einen Jünglingsverein. Es ist die der Zeit entsprechende Benennung und Organisationsform.

Schließlich ist 1901  auch das Gemeindehaus in der Buddengasse fertig geworden. An seinem Bau hatte sich die Kaiserin Auguste Viktoria mit einer Spende beteiligt. „Die Buddengasse“ - wie man das Haus nannte - ist bis zu ihrem Verkauf an das Diakonische Werk in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zentraler Ort gemeindlichen Lebens gewesen. Generationen von Konfirmanden sind in ihm unterrichtet worden. In dem im 2. Weltkrieg zerstörten und danach wieder aufgebauten Gebäude wohnten und arbeiteten die Gemeindeschwestern. Ein Pfarrhausteil wurde Bestandteil des Hauses. Die Arbeit mit Gemeindegruppen hat vor allem nach dem 2. Weltkrieg in "der Budengasse" stattgefunden.

  • Andere Einrichtungen auf dem Gebiet der Gemeinde

Auf Wehlheider Grund steht auch das Kurhessische Diakonissenhaus in der Goethe-, bzw. Herkulesstraße.  Es ist 1883 eingeweiht worden. Es war immer eine selbständige Einrichtung, aber von Anfang an in guter und fruchtbarer Beziehung zur Kirchengemeinde. 1889 wurde zum ersten Mal der Antrag gestellt der Gemeinde eine Schwester – damals also eine Diakonisse - zu überlassen. Das Diakonissenhaus hielt auch in der ersten Zeit den Kindergottesdienst, den die Gemeinde dann 1892 als eigene Aufgabe übernommen hat. Im Diakonissenhaus wurde auch eine Kleinkinderschule gegründet, die Vorläuferin des späteren Kindergartens der Kirchengemeinde war. 1894 stellte die Gemeinde ihre Kirche für die Einsegnung der Diakonissen zur Verfügung: ein Gottesdienst, an dem auch die Kaiserin Auguste Viktoria mit ihren Kindern teilnahm, wenn sie in Kassel war. So sieht es aus in den Gründerjahren der Kirchengemeinde, in denen die kommunale Eingemeindung Wehlheidens bevorstand. Schließlich gibt es noch eine eigene Gemeinde auf Wehlheider Grund, die auch ihre eigene Kirche, ihren eigenen Gottesdienstraum besitzt - erkennbar an einem kleinen Türmchen auf  dem am höchsten gelegenen Dach des Gebäudekomplexes, der auch der höchste Punkt des Stadtteils ist.  Es ist die Gemeinde des 1882 fertiggestellten Zuchthauses  -  so  die damalige Bezeichnung der heutigen Justizvollzugsanstalt (JVA),  die von Beginn an einen eigenen Seelsorger hatte. Verbindungen zur Kirchengemeinde hat es immer gegeben – schon weil die Pfarrer sich kannten. In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich die Beziehungen zwischen Gemeinde und JVA intensiviert.

  • Die Kirchengemeinde im 20 Jahrhundert

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es noch eine für die Gemeinde wichtige und gute Gründung. Der Kirchenchor  wird 1908 von Pfarrer Hollstein, dem 2. Wehlheider Pfarrer, ins Leben gerufen. Seiner Geschichte könnte man eine eigene Darstellung widmen, aber dafür kann hier nicht der Ort sein. Ohne sein Dasein, ohne die musikalische Gestaltung vieler Gottesdienste zu kirchlichen Festzeiten und zu Gemeindefesten, auch ohne seine Konzerte ist das Leben der Gemeinde bis heute nicht zu denken.

1914 brach der 1. Weltkrieg aus, das erste grundstürzende und seine Geschichte mitbestimmende Ereignis des Jahrhunderts. Söhne, Familienväter wurden eingezogen, nicht wenige blieben im Krieg. 1917 gab es den Hungerwinter. Zwei der drei Glocken der Adventskirche wurden für Kriegszwecke in diesem Jahr abgenommen und zerschlagen. Der Staat war nicht der Sozialstaat im heutigen Sinne, die Gemeinde keine soziale Einrichtung, Geldmittel standen ihr nur bedingt zur Verfügung, die Möglichkeiten waren begrenzt.  Aber es wurde geholfen, menschlich, hungrigen Kindern, in Not geratenen Familien. Das gilt auch für Krisen der späteren Zeit, der Inflationszeit 1923, in der Zeit der Weltwirtschaftskrise ab 1929, die zu Hitlers Machtergreifung und der Zeit des Nationalsozialismus führte.

1933 zählte die Gemeinde zählte 14.000 Seelen. Jeder der drei Pfarrer hatte also annähernd 5000 Gemeindemitglieder. Man kann sich die Arbeitslast der Pfarrer vorstellen.

  • Die Zeit von 1933 – 1945

Die Geschichte der Kirche in Deutschland war in dieser Zeit – sehr vereinfacht gesagt – von den mit dem Nationalsozialismus sympathisierenden Deutschen Christen und der als Reaktion auf sie entstandenen Bekennenden Kirche geprägt, deren bekannteste Repräsentanten Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer waren. Wie überall in der kirchlichen Landschaft gab es in Kassel verschiedene Einstellungen und Haltungen. In Wehlheiden war der Wehlheider Pfarrer Adolf Wüstemann -  nach dem Kriege erster Bischof der Landeskirche -  der Bekennenden Kirche zugehörig. Der Kirchenvorstand stand zu ihm. Adolf Wüstemann rief einen Hauskreis ins Leben, der im Sinne der Bekennenden Kirche arbeitete. Wüstemann hatte auch mit dem bedeutenden Marburger Theologieprofessor, dem Neutestamentler Rudolf Bultmann, Kontakt. Der kam gelegentlich nach Kassel und traf sich in Wehlheiden mit Pfarrern, die ebenfalls der Bekennenden Kirche nahestanden, zu theologischen Gesprächen.  

1934 musste die kirchliche Jugend innerhalb des Prozesses der sogenannten Gleichschaltung vertraglich in die Hitlerjugend eingegliedert werden. 1938 wurden die Pfarrer auf Adolf Hitler vereidigt. 1941 übernahm die Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt zwangsweise den evangelischen Kindergarten. -  Indirekt war die Gemeinde in die Auseinandersetzungen der Zeit in der Stadt Kassel immer mit einbezogen.

Am 1. September 1939 überfiel die deutsche Wehrmacht Polen, der 2. Weltkrieg brach damit aus. Das 50- jährige Jubiläum des Baues der Adventskirche wurde im Bewusstsein, der schweren (Kriegs-)Zeit still begangen. 1942 musste das Gemeindeblatt aus Gründen der Kriegswirtschaft sein Erscheinen einstellen. Wie 1917 wurden auch wieder die Glocken der Kirche im Turm für Kriegsmaterial zerschlagen. Im September richtete ein englischer Fliegerangriff auch im Vorderen Westen schwere Schäden an.

Am 22./23. Oktober 1943 sind bei dem  schwersten Luftangriff des Krieges auf Kassel große Teile der Stadt, unter anderem auch die Adventskirche zerstört worden. Durch den Luftzug ertönten die Orgelpfeifen, als die Orgel der Kirche von der brennenden Empore stürzte. Im März dieses Jahres wurden der Kindergarten und das Pfarrhaus in der Schönfelder Straße zerstört, auch das Gemeindehaus in der Buddengasse. Nun hatte die Gemeinde keine kirchlichen Räume mehr. Das Diakonissenhaus erlitt eine Teilzerstörung, dennoch erfuhren viele verwundete Menschen, später auch durchziehende Flüchtlinge, durch Helfer und Schwestern Hilfe. Am 8. Mai 1945 kapitulierte Deutschland, der Krieg war zu Ende. 

  • Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg

Die Jahre nach dem Krieg: das waren die zerstörte Stadt, der Mangel  - auch an Wohnungen -,  der Flüchtlingsstrom, die allmähliche Rückkehr der evakuierten Bewohner und der Kriegsgefangenen in die Stadt. Die Pfarrer besuchten auch Menschen in Notquartieren, zum Beispiel in dem Bunker in der Gräfestraße, der heute noch vorhanden ist.

Im September 1946 wählte die 1. Nachkriegssynode den  Wehlheider Pfarrer Adolf Wüstemann auf der Synode in Treysa einstimmig zum Bischof der Landeskirche, die eine neue Verfassung bekommen hatte.

„ …Wehlheiden ist eine Trümmerstätte“ schrieb der Wehlheider Pfarrer D. Sattler im Frühjahr in die Gemeindechronik. Die Kirchengemeinde hatte keine eigenen Räume mehr. Die sich sammelnden Gemeindemitglieder, die überlebt hatten, arbeiteten in erhalten gebliebenen Räumen des Diakonissenhauses. Im August 1947 wurde eine auf dem Gelände des Diakonissenhauses errichtete Baracke in der Herkulesstraße zur „Notkirche“ für das Krankenhaus, aber auch für die Gemeinde.  


Notkirche,1947-1953, Herkulesstraße, auf dem Gelände des Diakonissenkrankenhauses

Bald gab es Pläne zum Wiederaufbau der Adventskirche. Vorerst aber fehlten die Mittel. Die Gemeinde sammelte, immer wieder setzte sie sich gegen den Widerstand des Kirchenkreises der Stadt energisch für den Wiederaufbau der Kirche ein. Kirchenkreis und Dekan waren wegen der großen Nähe der Friedens- und der Kreuzkirche gegen ihn. Anfang der 60ger Jahre stand der Entschluss zum Aufbau durch ein entscheidendes positives Votum des Bischofs Wüstemann fest. Pläne einer neuen Raumkonzeption wurden von der Gemeinde beraten. Am 1. Advent 1963 wurde die verändert aufgebaute Kirche eingeweiht. Ihre ursprüngliche Gestalt war und ist vor allem außen zu erkennen, innen blieb der Chorraum erhalten. Zur Südostseite hin wurde ein Teil mit einer „Winterkirche“ und Gemeinderäumen angefügt.

In diesen Jahren veränderte der Stadtteil sein Gesicht. Letzte Gebäude aus der Zeit des Dorfes verschwanden. Noch gehörten alte Wehlheider Familien zum Charakter und Wesen des Stadtteils, den sie stark geprägt hatten. 

BILD Raum der wieder aufgebauten Adventskirche

Der Wehlheider Pfarrer Reinhard Heldmann  (1951 – 1973) hat Fotos und Dias aus dieser und früherer Zeit gesammelt und so einen Teil des „alten“ Wehlheiden bleibend dokumentieren können.

  • Wehlheiden  - eine große Gemeinde

In diesen Jahren erstand  auch das Gemeindehaus in der Buddengasse 10 wieder - mit Räumen für die Gemeindearbeit, Schwesternwohnung und  als Pfarrhaus.  1951 beschloss  der Kirchenvorstand, mit Unterstützung des Bischofs, den Bau des Gemeindehauses in der Hupfeldstraße - damals noch in weitgehend unbebauter Umgebung. Die Gemeinde war stark gewachsen, neue Wohnungsbauten waren entstanden, 1953 gehörten zur Kirchengemeinde Wehlheiden 15.700 Gemeindemitglieder. Im Juni 1953 wurde  das Gemeindehaus in der Hupfeldstraße eingeweiht - ein schlichter bescheidener Zweckbau der Nachkriegszeit mit einem Kirchenraum, von Architekt Schmiedt entworfen und gebaut. Später sollte der Bau einer Kirche hinzukommen – dieser Plan ist nie verwirklicht worden. Zwei Wehlheider Kirchenvorstandsmitglieder haben das Abendmahlsgerät gespendet.

Die Gemeindearbeit blühte in diesen Jahren. Besonders die Jugendarbeit des Jungmädchen- und Jungmännerkreises fand Zuspruch. Mütter- und Jungmütterkreis waren gut besucht, auch der Kirchenchor. Auch einen Männerkreis gab es. 1953 sind 140 Mädchen und Jungen konfirmiert worden, es gab 190 Vorkonfirmanden. Vier Pfarrstellen gehörten 1957 zur Gemeinde. 1958 wurden im provisorischen Glockenturm an der Franz-Treller-Straße die Glocken der Fa. Rincker / Sinn aufgehängt – rund tausend Menschen nahmen an diesem Ereignis teil. 

Die Gemeindeschwestern leisteten von Beginn an durch alle Zeit, in der sie tätig waren, eine für die Menschen und die Gemeinde sehr wesentliche Arbeit, nicht nur pflegerisch. Sie waren  Seelsorgerinnen der Kranken, auch der Familien, haben den Pfarrern wichtige Hinweise gegeben und sind wichtige Bindeglieder zwischen Menschen und Gemeinde gewesen.


Glocken, Pfr. Heldmann, 1953


Grundsteinlegung Gemeindezentrum Hupfeldstraße 21, 1952


Kirchsaal, Gemeindezentrum Hupfeldstraß, 1953

  • Die Teilung der Gemeinde bis zu ihrer Vereinigung 1984                     

1964 war  die Gemeinde ist so sehr gewachsen, dass ihre Teilung unumgänglich geworden war. So entstand  neben der „alten“ Kirchengemeinde die Gemeinde der Adventskirche, zu ihr gehörte nun die Adventskirche, während das Zentrum der „alten“ Gemeinde Wehlheiden das Gemeindehaus in der Hupfeldstraße wurde. In beiden Gemeinden wurden in der Arbeit teilweise eigene Akzente gesetzt.

In diesen zwei Jahrzehnten gab es neben der traditionellen Arbeit manche Veränderungen, in denen sich der Einfluss gesellschaftlicher und politischer Veränderungen und ein Wandel des Bewusstseins bemerkbar machten.

Die Beziehung zur Justizvollzugsanstalt intensivierte sich. Der Pfarrer der JVA berichtete über seine Arbeit in den Konfirmandenstunden, Wehlheider Pfarrer übernahmen gelegentlich Gottesdienste (Vertretungen), ein Gemeindemitglied leitete einen Gesprächskreis in der Anstalt.

Es blieb aber auch die traditionelle Gemeindearbeit. Eine starke und gute gemeindliche Kraft war nach wie vor die Arbeit der Frauenhilfe. Dazu gehören auch der Frauen- und Mütterkreis. Jährlich wurde ein Bazar veranstaltet. Die Bazare zeigten den Fleiß und die liebevolle Mühe der Frauen in den zum Verkauf angebotenen Stücken und waren Ausdruck regen gemeindlichen Lebens. Die langjährigen Gemeindeschwestern Anneliese Döhne und Maria Hott wären hier beispielhaft für die zu nennen, die sich in dieser Arbeit besonders engagiert haben. Sie haben auch Kurse für häusliche Krankenpflege angeboten. In derA rbeit mit alten Menschen wird der Seniorentanz eingeführt.

Die Frauenhilfe hat In der Zeit des geteilten Deutschland für gute Kontakte und  Hilfen für die Partnergemeinden in der DDR gesorgt, auch über die Wende hinaus. Eine solche Arbeit leisteten aber auch die Pfarrer mit regelmäßigen Besuchen in den Partnergemeinden – teil einzeln, teils mit Gemeindegruppen, teils auch mit dem Pfarrkonvent.

Der Einfluss der Studentenbewegung bewirkte eine Öffnung des Bewusstseins für gesellschaftliche Prozesse. Die Jugendarbeit fand neue Formen, die die aktuellen Bedürfnisse der jungen Menschen stärker aufnahm. Traditonelle Gottesdienstformen und auch der Konfirmandenunterricht wurden kritisch hinterfragt, neue Modelle ausprobiert.  Politische Predigten wurden ein Thema. Das hat auch auch zu kontroversen Meinungen im Kirchenvorstand geführt. Es herrscht die Tendenz, Kirche auch für die ihr Fernstehende zu öffnen. Versuche in dieser Richtung waren umstritten. 

Die Gemeinde der Adventskirche legte ihre Schwerpunkte neben traditionellen Veranstaltungen auf eine Zusammenarbeit mit der Kasseler Studentengemeinde, die sich für den Stadtteil und die Wohnbedingungen, auch für neue Wohnformen – Wohngemeinschaften –interessierte. In den Gottesdiensten predigten auch Hochschullehrer.  Ein anderer Schwerpunkt lag auf dem  Interesse am kulturellen Leben der Stadt, vor allem wahrgenommen durch den Gemeindepfarrer. Einen dritten Schwerpunkt schließlich bildete die Musik, vor allem die Kirchenmusik – aber nicht nur sie. Sehr engagiert  hat die Organistin Rosemarie Schwarz mit eigenen Konzerten und in der Zusammenarbeit mit Gastmusikern gearbeitet. Auch der Kasseler Bach - Chor probte in der Adventskirche und probt noch heute dort.

  • Die Arbeit der Wehlheider Gemeinde

Alternative Lebens- und Gesellschaftsmodelle, zum Teil mit utopischem Charakter, waren in dieser Zeit ein herrschendes Thema. Das führte zu Ergebnissen in der Arbeit der Kirchengemeinde Wehlheiden. Einer Idee von Dr. Gert Ekkehard Lorenz folgend errichtete eine heute noch aktive Gemeindegruppe 1984 ein dörfliches Backhaus neben dem Gemeindehaus in der Hupfeldstraße. Der Gedanke gemeinschaftlicher praktischer Arbeit als einer modellhaften zeitgemäßen Lebensform der Gemeinde stand dahinter. Gebacken wurde und wird regelmäßig, zu Gemeindefesten -  aber auch das Brot für die Abendmahlsfeiern kam und kommt aus dem Backhaus. Über das Backen hinaus soll das Backhaus den Gedanken der geistlichen Nahrung mit dem des lebensnotwendigen täglichen Brotes  verbinden, zumal die Tschernobyl-Katastrophe in diese Zeit fiel und das Bewusstsein für Lebensbedingungen  – für die Bewahrung der Schöpfung -  schärfte. Auch der Aspekt der sog. „Dritten Welt“ spielte eine Rolle, zumal es auch eine Zusammenarbeit  mit dem „3.-Welt-Laden“ gab.  Zusammen wurden Kontakte zu einer Gruppe in Brasilien gepflegt. Diese Gruppe  arbeitete ihrerseits an einem Stadtteilprojekt, das benachteiligten Menschen Arbeit und Mitbestimmung bot. Die „3.-Welt-Arbeit“ fand ihren Niederschlag in einem besonderen Engagement für „Brot für die Welt“ in Veranstaltungen mit Gästen aus diesem Bereich.

Es gab auch Gesprächsabende Neue Auffassungen des Gottesbildes, die Frauenbewegung, auch „Haben oder Sein“ von Erich Fromm, christliche Kunst und theologische Auslegungen wurden thematisiert. Die Jugendarbeit fand in offener Form statt, der Stadtjugendpfarrer bot eigens gestaltete Gottesdienste an. Inhaltlich befasst sich die Jugendarbeit auch mit dem Problem der Jugendarbeitslosigkeit und der Ökologie. Sommerfeste, Gottesdienste zur Wehlheider Kirmes und Adventskonzerte gehören zu den Aktivitäten. Ausflüge verschiedener Gruppen fanden statt, auch Freizeiten für alte Menschen – es kann nicht alles genannt werden. Die Arbeit der Gemeindebücherei bezog Vorstellungen von Büchern zu  übergreifender Thematik  - etwa Gudrun Pausewang -, aber auch andere, mit ein. Ein Beuys – Baum wurde 1986 auf dem Gemeindehausgelände gepflanzt. Es war der Versuch, einen weiten Horizont mit den lokalen Aufgaben  - wie Besuchsdiensten, die Gemeindemitglieder leisteten -  zu verbinden.

1970 wurde erstmals der Weltgebetstag in beiden Wehlheider Gemeinden gefeiert.  Im Mai 1974 wurde die neu gebaute  Kindertagesstätte eingeweiht. 2011 kam eine Gruppe für unter Zweijährige (U2) hinzu.

  • Wieder – Vereinigung der beiden Gemeinden – die Arbeit ab 1989

Etwa in den letzten drei Jahrzehnten verringerte sich die Zahl der Menschen, die in ihrer Kindheit noch etwas vom dörflichen Wehlheiden erlebt und diese Prägung in die Zeit nach dem Krieg mitgenommen haben, immer mehr. Handwerkerfamilien, letzte bäuerliche Familien, alte Wehlheider Familien eben, die sich gut kannten, deren Sprache sie als solche auswies. Sie hatten dem Stadtteil liebenswert Farbe und Charakter gegeben, man könnte von ihnen mehr erzählen, es würde den Rahmen sprengen. Nun gibt es die typischen alten Wehlheider kaum noch.

  • Aus einer Gemeinde werden zwei

In den achtziger Jahren ging die Einwohnerzahl in Kassel zurück. Damit verkleinerte  sich auch die Zahl der Menschen in den Kirchengemeinden. Die Landeskirche beschloss demzufolge, die Gemeinde der Adventskirche aufzulösen. Die Gemeinde hat sich leidenschaftlich dagegen gewehrt, ein viele Jahre dauernder Rechtsstreit ging mit dem Urteil des Kirchengerichtes der EKiD (Ev. Kirche in Deutschland) zu Ende. Das Urteil sprach der Kirchenleitung das Recht zur Auflösung der Gemeinde zu. 1989 wurde der größte Teil der Adventskirchengemeinde wieder zur Kirchengemeinde Wehlheiden gegeben, ein kleinerer kam zur Gemeinde der Friedenskirche. In Wehlheiden blieb es bei drei Pfarrämtern, deren Bezirke sich in den Grenzen verändert haben.

  • Veränderungen

Vor einhundert Jahren wurde die kirchliche Arbeit in Wehlheiden auf stabiler Grundlage volkskirchlicher Tradition aufgebaut. Immer noch spielt  diese Tradition eine tragende Rolle. Immer mehr aber geht der Charakter der Volkskirche, wenn auch langsam, zurück - das ist nicht zugleich ein Bedeutungsverlust.  Dieser Prozess ist noch im Gange. Das erforderte zunehmend seit etwa 1990 neue Impulse. Aktivitäten können nicht einfach nur vom Bestand zehren. In der gesamten Gemeindearbeit bis hin zu den Gottesdiensten sind weiterhin Phantasie und Kreativität gefragt. Damit sind den kirchlichen Mitarbeitern, den freiwilligen wie den angestellten, dem Kirchenvorstand und den Pfarrern neue existentielle Aufgaben gestellt. Friedensarbeit wird zum Thema. In der Adventskirche ensteht ein Friedensgebetskreis. Eineladen wird zu besonders gestalteten Gottesdiensten, auch zu Familiengottesdiensten,  und izu Aktivitäten, die der veränderten Lage konstruktiv Rechnung tragen. 

1997  ist das Gemeindehaus von Architekt Helmut Slenczka erheblich erweitert und modernisiert worden. Der neue Saal entstand, mit ihm ein weitläufiger Flur, auch eine neue Küche. Der Gottesdienstraum wurde verkleinert. Damit sind der Gemeinde wesentlich verbesserte Arbeitsmöglichkeiten gegeben. Zudem steht das Haus vermehrt Gastgruppen offen.

Der Kirchsaal wurde neu gestaltet. Ab 2006 machte es sich der Kirchenvorstand zur Aufgabe, Buntglasfenster zu ermöglichen. Es wurde dafür gesammelt und geplant. die Fenster wurden sparsam bunt von der Quedlinburger Glasfirma Schneemelcher und dem Künstler Günter Grohs, Wernigerode gestaltet. Beim Neujahrsempfang am 30.1.2005 wurden die ersten Fenster der Gemeinde vorgestellt.  Spender und der Förderverein ermöglichten es.

 

Foto KATHARINA – VON – BORA - HAUS

 

 

2005  hat  der Kirchenvorstand dem Gemeindezentrum Hupfeldstraße einen neuen Namen gegeben. Es heißt nun nach der Ehefrau Martin Luthers  „Katharina - von - Bora – Haus“. Man weiß, wie aktiv Luthers Frau war, wie sehr sie Martin Luthers außerordentlich kreatives und kommunikatives Dasein ermöglichte – welche unersetzliche Rolle sie für ihn gespielt hat. Mit dieser Benennung wird auch endlich eine Frau in dieser Weise gewürdigt, es ist eine ebenso  überfällige wie gute Idee.   

Das Jahr 2006 brachte wieder eine substantielle positive Veränderung: für den Einzug der  Evangelischen Familienbildungsstätte (bis dahin in der Pestalozzistraße) wurde das Gemeindehaus in der Hupfeldstraße noch einmal  verändert. Der Westteil des Hauses für die Bildungsstätte umgebaut. Der Künstler und Farbgestalter Arno Reich – Siggemann wurde mit der Gestaltung der Altarwand des verkleinerten Kirchsaals beauftragt.

Seit September 2006 ist damit ein Prozess zunehmender Zusammenarbeit und konstruktiver Wechselwirkung von Familienbildungsstätte und Gemeinde in Gang gekommen, der nicht abgeschlossen ist und sich weiter intensiviert. Gemeinde, Kindertagesstätte und Familienbildungsstätte sind dabei im Laufe der Zeit zu einem Haus der Generationen zusammenzuwachsen. Erste gute Entwicklungen - wie den Familienbibeltag - gibt es schon. An jedem 1. Donnerstag im Monat findet zum Beispiel ein gemeinsames Essen statt, zu dem auch Gäste „von draußen“ eingeladen sind. Das Haus belebt sich dadurch in vielfältiger Weise.

Da die Gemeinde noch einmal wieder kleiner geworden ist, wurde 2009 die dritte Pfarrstelle in Wehlheiden auf eine halbe Stelle reduziert. Als Schwerpunkt ist für sie die theologische Arbeit mit jungen Familien und Kindern vorgesehen. Das kommt wiederum der Zusammenarbeit mit der Kindertagesstätte und der Familienbildungsstätte zugute.

Im Juli 2010 wurden die vier Glocken aus dem baufällig gewordenen Glockenturm des Katharina-von-Bora-Hauses in den sanierten Glockenturm der Adventskirche überführt. Der Kirchenvorstand hatte sich für diese Lösung entschieden, nachdem nur noch Gelder für die Sanierung eines Glockenturmes bewilligt wurden. Zurzeit sammelt der Förderverein der Gemeinde Gelder für eine neue Glocke für das Katharina-von-Bora-Haus. Angestrebt wird ein Glockenträger mit einer kleinen Glocke. Nachdem  2011 der Vorplatz der Adventskirche neu gestaltet wurde und die Kirche in den Abendstunden beleuchtet und angestrahlt werden kann, eröffnen sich neue Perspektiven für den traditionsreichen Kirchenbau.

Wie lebendig und aktiv das Leben der Gemeinde gegenwärtig ist, kann dieser Internetseite entnommen werden.

Immer noch gibt es viele Menschen, die begleitet werden wollen, die Hilfe und Ermutigung in verschiedensten Lebenssituationen brauchen, die die Gemeinschaft der evangelischen Gemeinde suchen und sich in den Feiern der Gottesdienste oder in ihrer Arbeit einbringen. Wehlheiden wird auch in diesem Jahrhundert eine große Gemeinde sein. Gott als Inbegriff der Sinnstiftung menschlichen Lebens wird auch in sinnerfüllter praktischer Arbeit gefunden.

 Pfr. i.R. Volkmar Bühling.

 

Die Pfarrer*innen in Wehlheiden:  Adolf Armbröster 1888 – 1919 / Kirchenrat Hans Hollstein 1894 – 1920 / Friedrich Paulus 1913 – 1928  /  August Raabe 1920 – 1941  /  Geh. Konsistorialrat Dr. Trepte (auch Militärpfarrer) 1920 – 1934 /  Lic. Friedrich Klingender 1928 – 1936  /  D. Adolf Wüstemann 1934 – 45, nach dem Krieg von 1945 bis 1963 erster Bischoff der Ev. Landeskirche von Kurhessen-Waldeck /  Kurt Eckhardt 1936 – 1943  /  D. Walter Sattler 1942 – 1956  / Theodor Stemmler 1946 – 1973  /  Reinhard Heldmann 1951 - 1973  /  Kirchenrat Wilhelm Augustin  1956 – 1963 /Peter von Freyhold 1957 – 1960 / Dr. Hans - Gernot Jung, als Hilfspfarrer für einige Monate in Wehlheiden, späterer Bischof) / Kirchenrat Georg Richter 1964 – 1970  /  Gerhard Grenz 1964 – 1983  /  Heinrich Zechmeister 1968 – 1972  /  Dietmar Hensch 1970 – 2000  /  Heiner Schaumburg 1972 – 2009  /  Volkmar Bühling 1973 – 1997  /  Dr. Peter Weigandt  Vikar 1972-1973, Pfarrer: 1973 – 1989  / Jutta Richter - Schröder 1997 - 2022  /  Rolf Ortwein 2000 - 2019  /  Dr. Lutz Friedrichs 2009 - 2010  / Johanna Dumke  2011-2018  /  Gudrun Schlottmann seit 2019 / Hardy Rheineck seit 2020

 
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